Veränderung ist ein unvermeidlicher Teil unseres Lebens – manchmal aufregend, manchmal schmerzhaft. Abschiednehmen, Loslassen und Platz für Neues schaffen sind Themen, die viele von uns beschäftigen – auch am Jahresende. Oft wissen wir nicht, wie wir damit umgehen sollen.
In diesem Interview spreche ich mit Hanna Horn, die sich selbst als Trauermentorin bezeichnet. Es geht ihr um mehr als Trauerbegleitung im Todesfall. Mit ihrer Arbeit hilft sie Menschen dabei, bewusster durch Phasen des Wandels zu gehen und Altes hinter sich zu lassen, um gestärkt in die Zukunft zu schauen.
Gemeinsam tauchen wir ein in die spannende Verbindung von Bewusstheit, Körperwahrnehmung und dem Umgang mit Veränderungen.
Wie kann ich am besten umgehen mit Schmerz und Verzweiflung?
Evelyn: Hallo Hanna, wie bist du denn zu Deiner Aufgabe gekommen? Das ist ja nicht selbstverständlich, sich mit Trauer zu beschäftigen. Hast du da nicht auch viel mit Schmerz und Verzweiflung zu tun? Wie gehst du damit um?
Hanna: Ich habe als Ergotherapeutin gearbeitet und tatsächlich hat mich eine meiner Klientinnen darum gebeten. Sie hatte viele Jahre zuvor zwei Kinder verloren, die beide kurz nach der Geburt gestorben sind. Sie hat mich gefragt, ob ich mir vorstellen kann, mit ihr darüber zu sprechen und sie dabei zu begleiten. Sie hatte das sehr lange weggepackt und wir haben das dann einfach gemacht.
Ich habe schnell gemerkt, dass ich mich wohlfühle mit dieser Arbeit. Das war der Start. Dann habe ich begonnen, mich weiterzubilden in diesem Bereich und habe gemerkt, dass ich da eine Kompetenz habe, die nicht jeder hat, die aber einfach gebraucht wird. Ich kann sehr gut starke Emotionen halten und aushalten und mache genau deswegen auch diese Arbeit.
Wichtig ist auch: ich mache das nicht als Vollzeitjob, und ich achte sehr darauf, dass ich Pausen mache zwischen den Sessions mit den Klientinnen. Und ich habe eine sehr gute Selbstfürsorge und ich denke schon, dass das dazu beiträgt, dass ich die Arbeit gut machen kann und mit dem Schmerz und der Verzweiflung gut umgehen kann.
Evelyn: Das klingt wirklich beeindruckend. Gerade auch, dass du sagst, du kannst diese starken Emotionen gut halten. Finde ich sehr spannend. Wir haben alle öfter Situationen, in denen starke Emotionen hochkommen und müssen schon mit unseren eigenen umgehen. Manchmal werden uns dann die von den anderen zu viel.
Wenn das Leben nicht so spielt, wie wir das wollen, dann ist es ganz normal, dass wir Wut, Traurigkeit oder auch Ohnmacht spüren. Wie kann ich denn da auf eine gute Weise damit umgehen? Wie gehst du damit um, ganz konkret?
Hanna: Das Wichtigste, glaube ich, ist tatsächlich die Bereitschaft, die Gefühle zu spüren und das ist wirklich eine aktive Entscheidung, die ich treffen muss oder kann. Einfach zu sagen: da sind starke Gefühle, und ich öffne mich dem jetzt. Ich gebe dem Raum und Trauer ist nicht nur ein Gefühl, wie du auch schon sagtest. Das ist Traurigkeit und Ohnmacht und oft ein ziemlich gewaltiger Gefühlscocktail. Da braucht es eine Portion Mut dazu, sich dem zu öffnen und das wirklich spüren zu wollen.
Die Entscheidung, sich und seine Gefühle spüren zu wollen ist mutig
Das Stichwort dazu ist achtsame Wahrnehmung und dann eine Akzeptanz dieser Gefühle zu entwickeln und immer wieder die Bereitschaft dazu zu haben. Es gibt viele Frauen [Hanna arbeitet mit Frauen], die einen großen Respekt oder sogar Angst davor haben, ihrer Trauer zu begegnen. Dann ist es gut, sich eine Begleitung oder einen Support zu suchen. Das ist der Schlüssel zum Umgang mit den Gefühlen, die erst mal spüren zu können.
Evelyn: Ja, das verstehe ich. Das sind, wie auch an anderen Stellen, Blindspots, die man hat. Dann hat man vielleicht auch allein nicht den Mut oder die Kraft, sich dem auszusetzen, nehme ich an.
Hanna: Ja, genau. Also, ich begleite Frauen bei allen Verlusten mit Tod und ohne Tod, und die Umstände und auch die Art des Verlustes sind sehr unterschiedlich.
Teilweise ist da sehr Trauriges mit oft großen oder auch traumatischen Erfahrungen passiert. Dann ist das ein sehr, sehr großer Schmerz, der oft auch neu ist. Eine Dimension des Gefühls, die sie noch gar nicht kennen. Es ist eine Herausforderung, sich da dann heranzuwagen und auch eine Idee zu haben: Was mache ich damit? Das zu lernen ist der erste Schritt in dem Prozess und das braucht auch schon mal Zeit. Dieses „Wie kann ich damit eigentlich umgehen?“
Evelyn: Wie ist da Deine Erfahrung – ist die Entscheidung, sich auf diesen Prozess einzulassen, dass man das spüren und zulassen möchte, eine Kopfsache? Was hat da unser Körper mit zu tun? Wie wichtig ist es, eben auch konkret im Körper zu spüren, wie sich das Gefühl anfühlt? Oder wie kann ich den Körper vielleicht nutzen, um diese Gefühle, auch wie du sagst, halten oder akzeptieren oder auch verarbeiten zu können? Vielleicht loslassen zu können?
Was hat der Körper damit zu tun?
Hanna: Der Körper spielt eine superwichtige Rolle beim Trauern. Es ist, glaube ich, noch unterschätzt oder noch gar nicht so im Blick und bekannt, wie bedeutsam er ist. Auch, weil klar ist, dass Trauer ein großer Stress ist, der sich vor allem im Körper niederschlägt. Es verändert sich viel im Körper. Das Schlafen verändert sich oder auch das Essverhalten. Das Atmen wird schwer. In jedem Trauerprozess gibt es ganz viele körperliche Reaktionen. Es ist sehr wichtig, auch da eine Bereitschaft dafür zu haben, das zu spüren und mitzubekommen.
Oft sind nämlich die Gedanken bei dem, was fehlt und was verloren gegangen ist, bei dem Menschen, der gestorben ist. Bei dem Verlustthema. Verlust kann auch sein, dass etwas nicht eintritt, wenn der Kinderwunsch nicht erfüllt wird oder was auch immer.
Oft sind die Gedanken dort und der Körper und das Spüren wird vernachlässigt.
Dieses „Wie geht es mir eigentlich?“ und dann auch in dem Zusammenhang: „Was brauche ich?“ Diese beiden Fragen sind so essenziell im Trauerprozess.
Wie geht es mir eigentlich? Was brauche ich?
Da passiert eine Menge auf körperlicher Ebene. Wir wissen, dass Emotionen auch in den Faszien gespeichert werden. Es gehört also dazu, zu wissen: der Körper reagiert stark auf Verlust. Auch ein großer Teil des Gehirns spielt eine Rolle, es ist auch ein Lernprozess. Es braucht also Zeit, bis dieses ganze System den Verlust wirklich begreifen kann und mit der Zeit nach und nach die Emotionen verarbeitet.
Um auf die Frage zurückzukommen, ob es eine Kopfsache ist: Es ist, glaube ich, sowohl als auch. Es sind neurobiologische Prozesse, die ganz automatisiert ablaufen, auf tiefen Ebenen, auf Nervensystemebenen, im Gehirn, auf die wir gar nicht so einen Einfluss haben und gleichzeitig ist es aber auch immer eine aktive Entscheidung, wie wir mit diesen Gefühlen und mit diesen Herausforderungen umgehen. Die Chance oder die Möglichkeit, die besteht, ist immer auf dieser Ebene: Wie gehe ich damit um? Das „Was“ können wir nicht beeinflussen. Aber immer „Wie gehe ich jetzt mit dem um, was hier gerade los ist und passiert?“
Es ist wichtig, mit dem ganzen Selbst in den Prozess zu gehen
Evelyn: Für mich klingt das sehr naheliegend, auch zu meiner Arbeit mit Feldenkrais und meiner Perspektive, dass das so eine systemische Herangehensweise ist. Wenn ich meinen Körper und die Gefühle und auch das Denken gar nicht getrennt voneinander betrachte, hat das eine immer auch einen Einfluss auf das andere. Würdest du das auch so sehen?
Hanna: Auf jeden Fall. Ich nenne es immer das ganze System, ob man das ganzheitlich oder systemisch oder die verschiedenen Ebenen, die eine Rolle spielen, betrachtet. Das ist tatsächlich notwendig, um gut weiterzukommen und die Gefühle und den Verlust gut und vollständig auch ins Leben und in den Alltag und in die Biografie integrieren zu können.
Evelyn: Moshe Feldenkrais hat das übrigens das ganze Selbst genannt.
Vorhin hast Du darüber gesprochen, dass man bei Trauer mit den Gedanken eher in der Vergangenheit ist. Diesen Blick möchte ich jetzt auch mal einnehmen: wenn ich so auf das letzte Jahr zurückblicke, dann hat sich da nicht alles so entwickelt, wie ich es geplant habe, und das fühlt sich manchmal wie Scheitern an. Ist das auch eine Form von Verlust? Und wenn ja, wie gehst du damit um?
Ist das Gefühl von Scheitern auch ein Verlust?
Hanna: Ob das auch eine Form von Verlust ist, müsste man vielleicht nochmal genauer hingucken. Ich glaube, es hat viel mit der Bewertung zu tun und wenn man einen Perspektivwechsel vornimmt, dann werden unsere nicht erreichten Ziele, unsere nicht umgesetzten Pläne schon nicht mehr als Verlust erlebt. Das ist gerade mein Gefühl dazu.
Grundsätzlich kenne ich das natürlich, dass man Dinge nicht so schafft, wie man es sich vorgenommen hat, woran auch immer das liegt, ob das vielleicht zu viel war oder was auch immer. Was da hilfreich ist und was ich auch selbst versuche, ist, den Blick ganz bewusst auf das zu lenken, was ich geschafft habe, was da alles auch an Erfolgen in dem Jahr war. Dann wird das ein bisschen runder und kommt automatisch mehr in ein balanciertes Gefühl und eine balancierte Wahrnehmung.
Ich habe gut gelernt, sehr viel selbstfreundlicher und großzügiger mit mir zu sein. Das ist sehr hilfreich. Was mir meine Arbeit immer wieder beibringt und wofür ich sehr dankbar bin, ist, dass Verluste oder negative Erfahrungen oder Erlebnisse „einfach“ ein natürlicher Teil sind von Leben und Erleben. Ich merke wirklich, wie mir das persönlich hilft. Durch die Arbeit mit und von meinen Klientinnen bekomme ich immer wieder mit und werde daran erinnert, dass Verlust, Trauer und der Schmerz Teil des Ganzen sind.
Evelyn: Dieses „Scheitern“ könnte man vielleicht so sehen, dass man auf eine Art Abschied nehmen muss von einer Idee, die man hatte, von sich selbst, was man schafft, oder dem Leben, das man haben möchte. Und wir müssen eben da doch ziemlich oft Abschied nehmen im Leben, ob wir wollen oder nicht, von geliebten Menschen oder auch von Dingen, die uns nicht mehr möglich sind. Du hast vorhin den unerfüllten Kinderwunsch angesprochen, zum Beispiel. Manchmal auch von einem Lebensabschnitt, wenn sich die Umstände sehr verändern.
Ist Abschiednehmen ein Schritt in diesem Prozess der Trauer oder des Schmerzes von Verlust? Wie können wir das dann so machen, dass auch wieder eine Offenheit für Neues daraus entsteht?
Wie kann ich Abschiednehmen und offen werden für Neues?
Hanna: Es ist tatsächlich hilfreich, wenn wir versuchen, die Bewertung da ein bisschen rauszunehmen. Also einen Schritt zurückzugehen und es mehr als Erfahrung und Erleben zu betrachten.
Gleichzeitig geht es darum, dass der Mensch, der trauert, etwas subjektiv als etwas Fehlendes bewertet, und das muss integriert werden. Da hilft es, sich dessen erst einmal bewusst zu werden. Also nicht drüber hinwegzufegen, sondern auch bei vermeintlich kleineren Verlusten das zu üben und es ein Stück weit zu kultivieren. Wir können das Bewusstsein darauf lenken und dann die Gefühle, die dazugehören, zulassen.
Ja, ich glaube, das ist Teil von Abschiednehmen. Das hat mit Traurigkeit oder mit Ohnmacht oder auch mit Wut ganz viel zu tun. Durch dieses Raum geben für die Gefühle und die Gedanken entsteht Integration, also die Aufnahme in unser ganzes Selbst, und dadurch genau dann die Offenheit für Neues.
Das kann aber auch Zeit brauchen, weil es ein Lernprozess ist, auch fürs Gehirn. Tatsächlich braucht es Zeit, sich daran zu gewöhnen, dass etwas weg ist, jemand weg ist, oder eben etwas, das man sich sehr gewünscht hat, nicht kommen wird.
Es kann versöhnend sein, die Verbindung zu dem Verlorenen zu stärken
Was helfen kann, ist, da den Blick nicht so sehr auf das Loslassen zu lenken, sondern mehr auf die Verbindung. Wie kann man die Verbindung zu diesem Menschen, zu dem Verlustthema oder zu dem Lebenswunsch, der da war oder eigentlich ja immer noch ist, stärken? Das kann ein Stück versöhnend sein.
Evelyn: So schön. Hanna, vielen Dank für das großartige Gespräch. Möchtest du noch irgendetwas hinzufügen oder unseren Leserinnen mitgeben?
Hanna: Ja, ich würde wirklich gerne dazu ermutigen, sich die eigenen Gefühle zuzutrauen und auch den Verlusten im Leben mehr bewusste Aufmerksamkeit zu schenken, schon in den kleinen Verlusten Trauer zu üben, auszudrücken und als natürlichen Teil des Lebens mitzuerleben.
Evelyn: Danke Dir. Wunderbar. Wenn jemand von Dir als Mentorin begleitet werden möchte, wo kann man dich finden?
Hanna: Ich arbeite online, so dass ich begleiten kann, wo auch immer sich jemand gerade befindet. Meine Angebote und mein Kontakt sind auf meiner Webseite zu finden: https://www.hannahorn.de/
Außerdem bin ich auf Instagram zu finden unter @trauer.mentorin
Da gibt es auch einen Einblick in meine Arbeit.
Evelyn: Sehr schön. Vielen Dank und dann bis bald.
Hanna: Bis bald. Danke, ciao.
Das Interview führte Evelyn Richter mit Hanna Horn am 11. Dezember 2024.
Zusammenfassung: Was kannst Du tun bei einem Verlust?
Autorenbox: Evelyn Richter
Hallo, ich bin Evelyn, die Verfasserin dieses Blogs, Feldenkrais-Lehrerin und Wegbegleiterin hin zu einem angenehmen Umgang mit Deinem Körper und Dir selbst.
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